Exponate:
III.1 ¡QUE VIVA MEXICO! Filmplakat, nach Grigori Alexandrov, gefilmt von Eisenstein 1930-1931
III.2 Brief von Bachstein an Marie Seton, 27. Juli 1983
III.3 Filmstills, diverse, aus ¡QUE VIVA MEXICO! (1930-1931), 17,8 x 24 cm
III.4 Kopien von Sergei Eisensteins mexikanischen Zeichnungen, post mortem veröffentlicht, undatiert und unbeschriftet
III.5 Zeitungsartikel aus der Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober 1973, handschriftliche Anmerkungen von Bachstein
Ein Blick, ein Detail, ein mögliche Spur – der Nachlass Heimo Bachsteins fesselt durch seine wuchernde Fragmentierung. Nahezu symbolisch wirkt daher Bachsteins ausgeprägtes Interesse an ¡Que viva Mexico!, Sergei M. Eisensteins unvollendetem Filmprojekt. ¡Que viva Mexico! gilt nicht nur als Eisensteins imposantestes Werk, sondern auch als sein fatalstes – der Regisseur konnte den Film bis zu seinem Tod nicht fertigstellen.
Bachstein war bekennender »Eisenstein scientist«, wie er es in einem Brief an Marie Seton beschreibt. Das bisher Gefundene scheint jedoch nur die Spitze des Eisbergs zu sein: Ausschnitte aus Briefwechseln, Fotos von gesammeltem Material und rätselhafte Randnotizen lassen erahnen, dass hier noch mehr gewesen sein muss – jedes Fragment figuriert die Jagd nach dem Ganzen.
Die Exponate des Ausstellungsbereiches III. zeichnen einen kleinen Zweig von Bachsteins langjähriger Archivarbeit über das Werk des russischen Filmemachers nach. Erneut beweisen sie Bachsteins einzigartige Ausdauer und Leidenschaft; den Wunsch, die Lücke zu füllen um das Davor, das Dahinter und das Dazwischen der Filmkunst zu begreifen.
»Stellen Sie sich vor, 500 Weiber in unendlicher Kakteenwüste, Verwundete, Hausrat, Kinder, Betten, Tote durch Staubwolken schleppend und 500 weißgekleidete Soldaten in Strohhüten ihnen folgend. (…) Ich weiß nicht, was Sie von mir jetzt denken; aber es handelt sich, wie wir alle fest glauben, um unseren besten Film. «[1]
In einem Brief an Zalka Viertel kämpft Sergei Eisenstein spürbar leidenschaftlich für die plötzlich gefährdete Vollendung seines groß angelegten Filmprojekts ¡Que Viva Mexico!. Der avantgardistische Revolutionär verließ seine sowjetische Heimat und ging im Dezember 1930 aus Hollywood nach Mexiko, nachdem ihm Paramount den Vertrag kündigte. Als proklamierte Hochburg des Skurrilen und Chaotischen genoss Mexiko bereits in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre die Aufmerksamkeit vieler europäischer Künstler und Intellektueller. Doch Mexikos surreales Setting kann nicht das einzige gewesen sein, das Eisenstein fasziniert hat: Unmittelbar in den Nachwehen der mexikanischen Revolution war das Mexiko von 1930 ein politischer Feuerkessel, stürmisch und bebend.
So könnte man meinen, jener historische Kontext muss für Sergei Eisenstein – Meister des Protests auf der Leinwand – der denkbar fruchtbarste Boden für einen neuen dynamischen Streifen gewesen sein. Mit Streik (1925), Panzerkreuzer Potemkin (1925) und Oktober (1928) hatte Eisenstein eine flimmernde Revolution entworfen, die sich, dialektisch aufgespalten, mit doppelter Wucht zu entfalten vermag. Umso verwunderlicher erscheint es, dass Eisenstein und seine zwei Kollegen Grigori Alexandrov und Eduard Tisse bereits als grundlegende Bedingung für ihre Einreise eine Einverständniserklärung für die Regierung unterzeichneten: Sie würden im zu produzierenden Material jegliche Kritik am postrevolutionären Mexiko vermeiden.
Förderer des Projekts war der Mexican Film Trust, eine kleine Gruppe um Upton Sinclair, der ebenfalls mit Eisenstein vertraglich festlegte, der Film solle ein unkritisches Feature werden. In jenem Brief jedoch lässt Eisenstein auch verlauten, wie schrecklich schief die Zusammenarbeit mit Sinclair lief. Nicht nur wird Eisenstein aufgrund der Pleite und mangelnder Geduld des Mexican Film Trust von einem auf den anderen Tag der Geldhahn zugedreht, auch die UdSSR drängt auf seine sofortige Rückkehr. Besonders schmerzvoll für Eisenstein ist die sich abzeichnende Unmöglichkeit, seinen letzten Akt zu Ende zu führen:
»Die letzte Episode – mit allen Elementen eines ‚fünften Aktes’, und Sie wissen, was das bedeutet, wird herausgerissen: ein Schnitt, wie Ophelia aus ‚Hamlet’ zu schneiden, oder König Philipp aus ‚Don Carlos’!«[2]
Eisenstein als gescheiteter Revolutionär? Zurück in der UdSSR findet er keinen rechtlichen Weg, sich sein in Mexiko produziertes Material zuschicken zulassen. Die Produktion endet.
Heimo Bachstein schien besonders in diesem tragischen Konflikt wertvolle Historie zu vermuten. Er kontaktierte sämtliche Involvierte, bat um Material und persönliche Eindrücke von Sergei Eisenstein. Er sammelte Zeitungsartikel, die von im Nachlass gefundenen Briefe und Zeichnungen Eisensteins berichten. In einem braunen Umschlag verwahrte er einige Kopien von Eisensteins ebenso schlichten wie expressiven Zeichnungen aus Mexiko (siehe Ordner). Auch arbeitet er aktiv an einem eigenen Eisenstein-Archiv und wirkt bei diversen Ausstellungen mit. Besonders eloquent – ganz im Stile Bachsteins – kontaktiert er Marie Seton, Bekannte und Biografin von Eisenstein, sowie Produzentin von Time in the Sun (1939), einer späteren und als sehr nah an Eisenstein gelobten Version von ¡Que Viva Mexico!. Ob Seton Bachstein antwortete, bleibt ein Rätsel – denn dass etwas Unvollständiges besonders neugierig macht, hat Bachstein wohl von seinem Vorbild gelernt.
[1] Eine Kopie dieses Briefes hat Bachstein nicht nur (in Teilen) inhandschriftlicher, sondern auch in getippter Form aufbewahrt. Die Quelle, und ob die Computerversion von Bachstein selbststammt, ist dem Dokument nicht zu entnehmen.
[2] Derselbe Brief wie in Fußnote wird hier zitiert.
Leonie Haenchen
Hier der Link zum Ausstellungs-Flyer zum Ausdrucken und Nachlesen: „Der Wert des Fragments – Sergei Eisenstein in Mexiko (PDF, 1,5 MB)